Willkommen bei Hans Reime
Willkommen bei Hans Reime

Wendezeit

Stapelburg: Über wackligen Steeg in den Westen

Hans Reime

Karneval in Goslar

 

Wir, eine Gruppe von bis zu zehn Personen, zwei Paare und weitere in wechselnder Zusammen- setzung, darunter öfters auch ein heute nicht ganz unbekannter Bundespolitiker aus Goslar, treffen uns seit mittlerweile 30 Jahren jeden Samstagmittag in einem Lokal in der Goslarer Fußgängerzone zum Frühschoppen. So natürlich auch am Samstag, 11.11.1989 - Karnevalsbeginn.

Zwei Nächte zuvor hatten wir noch ergriffen vor den Fernsehern gesessen und ungläubig die Vorgänge in Berlin verfolgt, und selbstverständlich drehten sich an diesem Mittag die Gespräche hauptsächlich um den unvorstellbaren „Mauerfall“. Aber Berlin war weit weg und rund um Goslar gab es keinen Grenzübergang. Niemand hatte auch nur ansatzweise eine Vorstellung davon, was in wenigen Stunden in unserer Region los sein würde.

Der 11.11. war auch für uns in Goslar ein willkommener Anlass, ein wenig den Beginn des Karnevals zu feiern. Wir waren also in fröhlicher Runde, es mag gegen 14:00 Uhr gewesen sein, als die Tür aufging, ein Gast hereinkam und ganz aufgeregt sagte:“In Lochtum geht die Grenze auf“! Ich erwiderte:“Das glaube ich nicht, aber das werden wir gleich haben“. Ich ließ mir von der Wirtin das Telefon geben und rief das Lagezentrum meiner Dienststelle an. Bevor ich überhaupt eine Frage stellen konnte, hörte ich nur:“Wo stecken Sie denn. Wir haben schon versucht, Sie zu erreichen. Sind dabei, alle erreichbaren Kollegen zu alarmieren. Hier ist der Teufel los. In Lochtum geht die Grenze auf.“

Ich war damals Leiter der Schutzpolizei im Landkreis Goslar/Harz, dessen Ostgrenze durch die Innerdeutsche Grenze gebildet wurde. Wie gesagt, wir waren am feiern. Zwar alles im Rahmen, aber natürlich auch mit dem einen oder anderen Bier. Da mein Versuch, mich von einem Streifenwagen abholen zu lassen, scheitern musste – alle Einsatzkräfte waren an der Grenze – ich selbst aber nicht fahren wollte, bat ich meine Frau, mich mit meinem Privatwagen zur Grenze nach Loch­tum zu fahren. Es blieb keine Zeit zum Umziehen, so dass ich mich in Zivil auf den Weg machen musste.

Lochtum ist ein kleinerer Ort, ca. 16 km östlich von Goslar, direkt an der damaligen Grenze zur DDR, in unmittelbarer Nachbarschaft zu Abbenrode auf DDR-Seite. Dort angekommen, fiel den anwesenden Streifenbeamten offensichtlich ein Stein vom Herzen. Die Situation war aber überschaubar. Ein Loch befand sich im Sichtschutzzaun auf DDR-Seite, durch das vereinzelt DDR-Bürger in den Westen kamen. Es mögen zu dem Zeitpunkt ein paar Dutzend gewesen sein und einige hundert Schaulustige auf westlicher Seite. Als eine Gruppe BGS unter Führung eines Beamten gehobener Dienst vor Ort eintraf, konnte ich diesem den „Brennpunkt“ übergeben und mich über Funk über die Lage entlang der Grenze in meinem Zuständigkeitsbereich informieren. Inzwischen waren an allen ehemaligen Straßenübergängen im Harz, so z.B. in Wiedelah, Braunlage, Hohegeiß, Versuche kleinerer Grenzöffnungen zu verzeichnen. Der absolute Brennpunkt zeichnete sich allerdings an der Grenze zwischen Eckertal und Stapelburg, im Zuge der alten B6 ab.

Ich ließ mich von den Streifenbeamten von Lochtum nach Eckertal bringen, was allerdings nur auf Umwegen und auf den letzten Metern nur zu Fuß möglich war. In Eckertal war der Teufel los. Die alte B6, im Ausbauzustand von 1936, war in Richtung Bad Harzburg völlig von westlichen Schaulustigen beidseitig zugeparkt. Beiderseits der Grenze ein Pulk von Menschen. In der Grenzmauer klaffte ein Loch, durch das sich die Menschen in Richtung Westen drängten.

Über die Ecker, die hier den Grenzfluss bildete, hatten einige mit Brettern einen Behelfssteg gebaut, über den die Menschen über ein Privatgrundstück in den Westen gelangten.

 Stunde der Grenzer

An der Grenze in Eckertal war ein ganzes Heer von BGS-Angehörigen aller Dienstgrade vor Ort. Auch der Oberkreisdirektor, sein Vertreter, der Kreisbrandmeister, dazu der Bürgermeister und natürlich der Polizeichef von Bad Harzburg. Es war aber zweifelsfrei die Stunde der Grenzer beider Seiten.

 

Die erste Annäherung erfolgte allerdings etwas skurril. Nachdem der Sichtschutz auf der Eckerbrücke der B 6 entfernt war, erschien ein Oberstleutnant der Grenztruppen der DDR mit einem Helfer auf der Brücke und der Helfer pinselte mit weißer Farbe eine „Demarkationslinie“ auf die Brücke. Der Oberstleutnant bat, einen Verantwortlichen auf westlicher Seite zu sprechen und darum, das „Territorium der DDR“ zu respektieren und den Grenzstrich nicht zu überschreiten. So stellten sich die „Westler“ auf der einen und die „Ostler“ einen halben Meter weiter auf der anderen Seite des Striches auf und man begann über das weitere Vorgehen zu beraten. Zum Schluss schlug der Oberstleutnant vor, sich jeweils zur vollen Stunde an der „Demarkationslinie“ zu treffen, um das Erforderliche zu koordinieren. Außerdem forderte er noch auf, dafür zu sorgen, dass auch die westlichen Bürger die Grenzlinie beachten und nicht unkoordiniert auf das „Territorium der DDR“ vordringen. Ein frommer Wunsch, der bald durch die normative Kraft des Faktischen ad absurdum geführt werden sollte.

 

Die Brücke der B 6 über die Ecker war marode und der Behelfssteg über die Ecker reichte längst nicht mehr aus. Es wurde entschieden, dass eine Tiefbaufirma aus Vienenburg noch am Samstag damit beginnen sollte, die Straßenbrücke über die Ecker befahrbar zu machen, und ein technischer Zug des BGS wurde angefordert, um parallel dazu eine Fußgängerbrücke zu bauen.

 

Während sich am Samstagnachmittag der Grenzverkehr noch in Grenzen hielt und viele „Ostler“ nach einem Bummel durch Eckertal wieder in den Osten zurückkehrten, brach am Sonntagmorgen die Hölle los. Ein unendlicher Strom von Fußgängern ergoss sich einerseits in Richtung Bad Harzburg und, in Gegenrichtung, die Neugierigen in Richtung Eckertal. Auf der Ostseite stauten sich die „Trabis“ von Stapelburg bis weit hinter Ilsenburg.

 

Am Sonntagnachmittag war es soweit. Die Brücke der B 6 über die Ecker war wieder befahrbar und der neueste Grenzübergang zwischen Helmstedt und Duderstadt war geboren. Als der erste Trabbi die Brücke befuhr, brach ein unbeschreiblicher Jubel der spalierbildenden Wartenden los. Der Bürgermeister von Bad Harzburg, Jockel Homann, begrüßte die Insassen und es begann sich ein Bandwurm von Trabbis in Richtung Westen zu bewegen. Nun musste auch die Landespolizei ihre Zuschauerrolle aufgeben, und es begann eine Menge Arbeit.

 

Stapelburg

Am späten Samstagabend erschien der damalige Niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht mit Gefolge an der Grenze in Eckertal. Nach kurzer Einweisung in die Entwicklung der letzten Stunden entschloss man sich spontan, über die Grenze nach Stapelburg zu gehen. Es setzte sich ein ganzer Tross in Richtung Osten in Bewegung und wir steuerten das Kulturhaus in Stapelburg an. Dort war eine Geburtstagsfeier für eine betagte Stapelburgerin im vollen Gange und die Festteilnehmer staunten nicht schlecht, als plötzlich der Niedersächsische Ministerpräsident vor ihnen stand. Albrecht beglückwünschte das Geburtstagskind in einer kurzen Ansprache, und ich weiß aus späteren Zeitungsberichten, wie erfreut und beindruckt die Jubilarin noch Jahre danach von dieser Begegnung war.

Wie man sich vorstellen kann, herrschte ein ziemliches Gedränge im Kulturhaus und da ich immer noch in Zivil und in Begleitung meiner Frau war, entschlossen wir uns, Stapelburg noch auf eigene Faust zu erkunden. Wir schlenderten durch den schon zur Ruhe gekommenen Ort und kamen zu einer etwas abgelegenen Gaststätte. Wir öffneten vorsichtig die Tür und zig Augenpaare blickten uns verblüfft an. Zögernd traten wir ein, stellten uns an die Theke und bestellten zwei Bier. Wir staunten nicht schlecht, als der Wirt zwei Gläser und zwei halbe Liter vor uns hinstellte und 86,- !! Pfennig verlangte. Nach einem kurzen Überraschungsmoment kamen wir schnell ins Gespräch, und bald waren wir von den Einheimischen umringt.

So endete nach ein paar interessanten, bewegenden aber auch lustigen Gesprächen unser Karnevalsbeginn in einer Dorfkneipe in Stapelburg. Hätte mir das einer 10 Stunden vorher prophezeit – ich hätte ihn für verrückt erklärt !

 

Die Situation im Hinterland

Wie gesagt, nach der Grenzöffnung begann mit Macht die Arbeit der Landespolizei. Zunächst galt es, den West- und den Ostverkehr zu entflechten. Schon bald sahen wir uns gezwungen, die B 6 am Ortsausgang Bad Harzburg Richtung Osten für Westfahrzeuge zu sperren, weil parkende Kraftfahrzeuge Eckertal total verstopften und die B 6 blockierten. Natürlich war damit massiver Ärger bei den neugierigen Westlern vorprogrammiert.

Die Stadt Bad Harzburg drohte überzulaufen. Es mussten schnellsten Entlastungsrouten Richtung Goslar und Vienenburg her. Es gab aber kein ausgebautes Straßennetz in Grenznähe. Also wurden schmale Verbindungs- und „Grüne-Plan-Wege“ zu Einbahnstraßen Richtung Westen umfunktioniert.

Am Sonntag, dem 12.11.1989, öffneten sämtliche Geschäfte in den grenznahen Orten und die Gemeinden improvisierten und richteten Stellen für die Ausgabe von Begrüßungsgeld ein. Bargeld musste organisiert und bereitgestellt werden, In Goslar gingen die Scheine zwischen 10 und 100 DM aus. Mitarbeiter der Auszahlstellen machten sich auf, um in den Einzelhandelsgeschäften der Stadt das Geld gegen Quittung wieder einzusammeln, das sie erst Stunden vorher ausgegeben hatten, um es erneut auszugeben. Verrückte Situation.

Im Laufe der Woche begann ein Kampf um die Ostkunden. Plötzlich stellten die Bad Harzburger fest, dass immer mehr Ostdeutsche nach Goslar statt nach Bad Harzburg fuhren. Ergo stellte man dort, wo die Alternativrouten nach Westen auf die Abzweigung nach Goslar und Bad Harzburg trafen, Hinweiszeichen mit der Aufschrift „Begrüßungsgeld hier“ mit Pfeil in Richtung Bad Harzburg auf und wir wunderten uns, warum Bad Harzburg plötzlich wieder mehr als zu erwarten verstopft war.

Bald waren Aldi und Lidl leergekauft. Einheimische mussten weit ins Hinterland fahren, um an frisches Obst und Gemüse zu kommen.

Und am folgenden Samstag, die Stadt war brechend voll, war natürlich wieder Stammtisch angesagt. Es dauerte nicht lange, bis sich erste Ostdeutsche in unser Stammlokal trauten und vorsichtig fragten, wie viel denn ein Bier kosten würde. Wir sahen unserer Wirtin tief in die Augen und fragten sie, ob sie etwa den ostdeutschen Gästen ihr Begrüßungsgeld für ein Bier abnehmen wolle. Sie stutzte, telefonierte kurz mit ihrem Mann, stellte ein Sektkühler für das Ostgeld auf die Theke und verkaufte den ostdeutschen Gästen die Getränke 1 zu 1 für Ostmark. Nicht nur darüber war die Freude groß. Die Großzügigkeit sprach sich auch in Windeseile rum und der Laden war den ganzen Tag rappel voll. Es blieb zwar bei dieser einmaligen Aktion, aber die Wirtin jammerte uns noch Wochen danach die Ohren voll, weil sie nicht wusste, wo sie mit dem Ostgeld hin sollte. Das nennt man dann wohl Geschäftsrisiko für einen guten Zweck.

 

Die erste Fahrt nach „drüben“

Am 23.12. öffnete sich auch für uns Westler die Grenze Richtung Osten. Wir konnten rüber. Meine Frau und ich entschlossen uns, am nächsten Tag, also am Heiligen Abend, früh­morgens mal kurz über Ilsenburg nach Wernigerode und Halberstadt zu fahren. Wir fuhren in Stapelburg über die Grenze, kamen aber zunächst nur bis zum Ortseingang Ilsenburg. Dort ist noch heute rechter Hand ein Garagenkomplex vorhanden, und auf dem Garagenhof hatten Ilsen­burger alles für eine „Dankeschön-Weihnachtsfeier“ für uns Westler vorbereitet. Wir hatten keine Chance, wurden auf den Hof geleitet und mussten die vorbereiteten Bratwürsten und den „Glühwein“ kosten. Es dauerte eine ganze Weile bis wir uns loseisen und weiter nach Wernigerode fahren konnten. Die Innenstadt beindruckte uns schon damals durch ihr Flair und nach einem Bummel durch die Fußgängerzone fuhren wir weiter nach Halberstand. Ungläubig standen wir dort in der Altstadt bzw. in dem, was davon noch übrig war. Total heruntergekommen. Eine zum Teil noch bewohnte Ruinenlandschaft rund um den Dom. Erschütternd.

Auf dem Rückweg nach Goslar kamen wir durch Veckenstedt. Hier war die Fahrt erst mal wieder zu Ende. Mehrere Menschen blockierten die Fahrbahn, umringten unseren Wagen und baten uns nachdrücklich, zu ihnen ins Haus, zu deren „Dankeschön-Feier“, zu kommen. Unser Hinweis, es sei Heiligabend, half nichts. Wir konnten uns der euphorischen Aufforderung nicht entziehen. Drinnen war das Wohnzimmer ausgeräumt und voller Menschen. Wir wurden zu Kaffee und Kuchen eigeladen, mussten aber trotz der tollen Stimmung bald weiter. Schließlich warteten meine Schwiegereltern mit Kartoffelsalat und Würstchen am Heiligen Abend auf uns.

 

Begegnungen mit dem „Klassenfeind“

Schon kurz nach der Grenzöffnung erschien auf meiner Dienststelle in Goslar ein Zivilist und stellte sich als Hauptmann der Volkspolizei in Wernigerode vor. Er gab an, informell am runden Tisch mitzuarbeiten und auf eigene Faust nach Goslar gekommen zu sein, um sich bei uns vorzustellen und einen ersten Eindruck über die Arbeit der Westdeutschen Polizei zu bekommen. Nach kurzem Abtasten kam man sich insbesondere über die Gewerkschaftsschiene näher und bald ging der Kollege aus Wernigerode bei uns ein und aus. Es wurde kopiert. Es wurden Erlasse rausgesucht und Vorschriften überlassen. Und eines Tages wurde über ihn der Kontakt zu seiner Dienststelle hergestellt und ein Besuch in Wernigerode vereinbart.

Der Besuch fand Anfang Januar 1990 statt. Nach dem Motto: „Klappern gehört zum Hand­werk“ rüsteten wir fahrzeugtechnisch auf, liehen uns von der Vekehrspolizeii­nspek­tion Braunschweig einen grünweißen Daimler, nahmen einen zivilen und einen grünweißen Opel-Omega und machten uns auf den Weg nach Wernigerode. Unsere Delegation bestand aus ca. 10 Personen unter Leitung von Dieter Klosa und HaJo Rinke.

Wir fuhren über den inzwischen formell ausgebauten Grenzübergang, an salutierenden Grenzsoldaten-Ost ohne Kontrolle vorbei, über Stapelburg und Ilsenburg nach Wernigerode. Ich sehe noch die staunenden und leicht ungläubigen Augen der meisten Passanten am Straßenrand und möchte nicht wissen, ob damals nicht der ein oder andere eine „Übernahmestreitmacht“ herannahen sah...

In Wernigerode angekommen, empfing uns vor dem Volkspolizeikreisamt (VPKA) am Nicolaiplatz der Leiter des VPKA, Oberstleutnant der Volkspolizei Gerd Schulz. Ein Bild, das sich uns allen eingeprägt hat. Der nicht gerade kleine Oberstleutnant Schulz stand stocksteif und distanziert auf der untersten Treppenstufe, hinter ihm Angehörige seines Stabes. Von diesem leicht erhöhten Standort aus reichte er Dieter Klosa auf dem Gehweg vor der Treppe die Hand, der gezwungenermaßen zu ihm aufblicken musste und begrüßte uns mit einem jovial gemeinten, aber verunglückt wirkendem „Willkommen in Wernigerode“.

 

Wir wurden sofort ins Dienstzimmer des VPKA-Leiters gebeten, das genauso eingerichtet war, wie man es heute aus Fernsehberichten über Diensträume in der DDR kennt. Ein großer Schreibtisch, quer an der Stirnwand, davor, t-förmig, ein längerer Besprechungstisch mit sechs oder acht Stühlen. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde und dem Austausch von Höflichkeiten eröffnete uns Oberstleutnant Schulz, dass er es als nicht angebracht erachte, schon jetzt das Gespräch zu vertiefen, da er davon ausgehe, dass er zukünftig als Ansprechpartner nicht mehr zur Verfügung stehen würde, weil er wahrscheinlich den Monat Januar im Amt nicht mehr überstehen würde. Rums, das saß. Er sollte Recht behalten. Das zeugte dann wohl von einer realistischen Selbsteinschätzung, über die sein Vertreter, wie sich später herausstellen sollte, nicht verfügte.

Nach einem Rundgang durch das Dienstgebäude lud uns der VPKA-Leiter - natürlich gegen Bezahlung - zum Mittagessen ein. Wir bestiegen unsere Streifenwagen und machten, angeführt von Ladas und Wartburgs und eskortiert von Kradfahrern, eine Art Stadtrundfahrt hinauf zu Schloss Wernigerode, wo für uns im Schlossrestaurant eingedeckt war.

Nach einem guten Essen, einem guten Glas Rotwein, Smalltalk in bunter Runde und einem ausgiebigen Trinkgeld für die Bedienung – was später noch zur Sprache kommt - machten wir uns mit gemischten Gefühlen auf den Heimweg.

 

Besuch in Braunlage

Noch vor Weihnachten besuchten die Beamten der Polizeidienststelle in Schierke/Elend die Polizeistation in Braunlage. Der Stationsleiter bat mich, dabei zu sein und so fuhr ich nach Braunlage. Die Begegnung unterschied sich deutlich von unserem Besuch in Wernigerode. Sie war wesentlich unverkrampfter, ja schon fast kollegial. Nach dem persönlichen und dienstlichen Austausch bat einer aus der Runde, zur Skisprungschanze auf den Wurmberg fahren zu dürfen. Wir taten ihm den Gefallen und fuhren mit der Seilbahn auf den Wurmberg. Oben auf der Sprungschanze blickt man in das Tal auf Schierke hinunter und der Springer hat beim Anlauf das Gefühl, in den Osten zu springen.

Der Kollege, der die Bitte geäußert hatte, wurde ganz still und fing plötzlich bitterlich zu weinen an. Er war zunächst gar nicht zu beruhigen und nach dem er sich wieder gefasst hatte, brach es aus ihm heraus:“Da unten bin ich geboren. Schon als kleiner Junge habe ich immer wieder hoch auf diese Schanze geschaut und nicht begriffen, warum ich hier nicht hoch durfte. Später habe ich oft davon geträumt, einmal hier stehen zu dürfen. Und heute darf ich hier stehen. Ihr glaubt gar nicht, was das für ein erhebendes Gefühl für mich ist“.

Doch, wir glaubten es ihm, und ich fuhr tief beeindruckt nach Goslar zurück.

 

Personelle und materielle polizeiliche Unterstützung

Anfang des Jahres 1990 meldeten sich zwei Majore als neue kommissarische Leiter der Schutz- und Kriminalpolizei Wernigerode bei uns in Goslar. Major der Volkspolizei Dieter Sch. und Major der Kriminalpolizei Frank D. waren beide Mittdreißiger und uns von der ersten Begegnung in Wernigerode bekannt. Sie baten um unsere Unterstützung bei ihrem Bemühen um die Neuausrichtung ihrer Verantwortungsbereiche. So kam es, dass schon lange vor der Wende, und noch bevor Niedersachsen offiziell die Patenschaft für den Aufbau der Polizei nach westlichem Vorbild in Sachsen-Anhalt übernahm, informell von uns Aufbauhilfe in Wernigerode geleistet wurde.

In der Folgezeit pendelten Beamte aller Fachrichtungen aus Goslar und Bad Harzburg nach Ilsenburg und Wernigerode und leisteten informelle Rat- und Tathilfe. Umgekehrt gingen Beamte aus Wernigerode bei uns ein und aus, um sich schlau zu machen. Die Fernmelder installierten ein leistungsfähiges Funkgerät in Wernigerode bauten eine Funkbrücke über den Brocken zum Wurmberg auf und stellten so eine Funkverbindung zwischen den Polizeien in Wernigerode und uns in Goslar her.

Offensichtlich fand diese enge Verbindung aber nicht nur Gegenliebe. So intervenierte der Behördenleiter der Volkspolizei im Innenministerium in Magdeburg, Oberst Stephan, bei Helmut Dohr, damals Leiter der Schutzpolizei im Regierungsbezirk Braunschweig und bat, die enge Verbindung zwischen Goslar und Wernigerode zurückzufahren, weil die Wernigeröder in den internen Diskussionen um die Neuausrichtung der Volkspolizei ihr vermeintliches Herrschaftswissen derart ausspielten, dass sich benachbarte Dienststellen überfahren und an die Wand gedrückt fühlten.

Noch ein Kuriosum am Rande: Bis lange nach dem Mauerfall gab es nur wenige Telefonleitungen zwischen Ost und West und die Wenigen waren oft hoffnungslos überlastet. Ein pfiffiger Beamter und Amateurfunker aus dem Oberharz mietete für seine Frau und seinen Sohn in Eckertal und Stapelburg jeweils ein Zimmer mit Telefonanschluss und baute mit eigenen Geräten eine Art Funkvermittlungsstelle zwischen den beiden Bereichen auf. Dann nahm er Anrufe aus der DDR, die einen Teilnehmer im Westen betrafen, in Stapelburg entgegen, leitete deren Inhalte über Funk weiter nach Eckertal, von wo aus sie an den bundesdeutschen Teilnehmer übermittelt wurden und umgekehrt. Das System florierte. Ob und wie lukrativ es war, entzieht sich meiner Kenntnis.

 

Besuch bei uns zu Hause

Die beiden kommissarischen Polizeichefs aus Wernigerode machten einen durchaus sympathischen und gewinnenden Eindruck und nach einiger Zeit lud ich die beiden zu mir nach Haus ein, um sich einmal abgesetzt von dienstlichen Zwängen und in lockerer Atmosphäre etwas privater auszutauschen. Mich interessierte natürlich ihr dienstlicher Werdegang in der DDR und sie erzählten freimütig, dass durch den Einfluss der „Gorbatschow-Ära“ deren Ausbildungsinhalte „modifiziert“ worden seien und sie deshalb vor den Verantwortlichen des Runden Tisches als „unbelastet“ galten und so in ihre neue Funktion berufen wurden.

Stutzig hätte ich allerdings werden müssen, als sich Sch. erkundigte, wie weit es denn nach Salzgitter sei und was es denn mit der „Zentralen Erfassungsstelle“ auf sich habe, die in Diskussionen in Kollegenkreisen einen breiten Raum einnehmen würde. Ich skizzierte kurz die mir allgemein bekannten Aufgaben der Dienststelle und das Gespräch ging wieder ins private über.

Sie erzählten, dass sie jeder eine „Datsche“ in Drübeck zwischen Ilsenburg und Wernigerode besäßen. Zwei, wie sich später herausstellte, für DDR-Verhältnisse ansprechende Domizile mit Brockenblick, die sie im Westen touristisch als Ferienhäuser vermarkten wollten. Sie fragten mich, ob ich nicht jemand kennen würde, der in Goslar die Vermarktung für sie übernehmen könnte. Ganz schön geschäftstüchtig die beiden.

Beide sind aber nicht mehr dabei. Während Frank D. schon bald aus dem Polizeidienst ausschied (ausscheiden musste?) und tatsächlich in die Tourismusbranche wechselte - er ist seit 1998 Präsident der DEHOGA in Sachsen-Anhalt - hielt sich Dieter Sch. noch bis weit nach der Wende im Polizeidienst. Als Personalchef in der Polizeiinspektion Halberstadt schaffte er es über lange Zeit, seine eigene Personalakte vor der Überprüfungskommission zur Bewertung von Stasi-Kontakten zu verbergen. Ja, er war selbst Mitglied der Kommission und flog erst auf, als ein ehemaliger „Kollege“ vor der Kommission erscheinen musste.

 

Eine ganz persönliche und nachhaltige Begegnung

Durch Zufall lernte ich im Frühjahr 1990 jemanden kennen, der als Anzeigenleiter bei der „Wernigeröder Volksstimme“ tätig war. Ich fuhr damals einen 10 Jahre alten und auch in Westdeutschland nicht allzu verbreiteten Sportwagen. Aus einer Laune heraus formulierte ich auf einem Notizzettel eine Kleinanzeige und gab sie ihm mit dem Bemerken mit, wenn er wolle, könne er die ja mal für mich aufgeben.

Wochen später klingelte bei mir das Telefon. Es meldete sich jemand, der fragte, ob mein Auto noch zu verkaufen wäre. Ich hatte den Vorgang längst vergessen, fragte etwas verdattert, von wo er denn anrufe, und er antwortet:“Aus Eckertal“.

Kurze Zeit später stand ein junges Ehepaar vor unserer Tür, um sich den Wagen anzusehen. Er war sofort Feuer und Flamme und nach einer Probefahrt nicht mehr zu halten. Er wollte den Wagen haben. Das Problem: Beide verfügten zwar über einiges Westgeld, aber nicht genug, um den Wagen voll bezahlen zu können. Er schlug mir vor, den Wagen anzuzahlen und solange bei mir zu lassen, bis er abbezahlt sei. Auf meine verdutzte Frage, ob er denn Westgeld verdienen würde, antwortete er, nicht er, aber seine Frau.

Nun kam Tina ins Spiel. Sie – im Alter meiner Tochter - erzählte, dass sie mich kennen würde, weil sie mich Anfang Januar im Wernigeröder Schlossrestaurant bedient habe. Dort arbeite sie und würde das gesamte West-Trinkgeld eisern sparen. Deswegen traue sie sich zu, den Wagen „abstottern“ zu können.

So kam es, dass die beiden einmal die Woche zu uns nach Goslar kamen und in einem Plastikbeutel einen Haufen Kleingeld mitbrachten. Bei der Gelegenheit kamen wir natürlich immer mehr ins Gespräch und eines Tages erzählte Tina, dass ihr Großvater mal der größte Bäcker in Wernigerode war, der 1952 unter fadenscheinigen Gründen verhaftet, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und enteignet worden sei. Heute residiere die „HO Wernigeröder Backwaren“ in den Geschäftsräumen ihres Opas an der Breiten Straße in Wernigerode.

Was dann folgte, würde ein eigenes Buch füllen. Ich will es kurz machen: Tinas Oma, der Opa war verstorben, fühlte sich zu alt, um beim „Amt für offene Vermögensfragen“ einen Rückführungsantrag zu stellen. Ich überredete Tina, sich von ihrer Oma eine notariell beglaubigte Vollmacht ausstellen zu lassen und versprach, ihr bei dem Gang durch die Instanzen zu helfen, wenn sie auf eigene Faust einen Rückführungsantrag stellen würde. Ich ahnte damals nicht, auf was für ein Abenteuer ich mich einlassen sollte.

Zum Glück hatte die Oma noch fast alle Unterlagen einschließlich des Urteils aus jener Zeit aufbewahrt, was sich als riesiger Vorteil herausstellen sollte, weil nur wir und nicht die staatlichen Stellen im Besitz von „Beweisen“ waren. Da es sich um einen Industriebetrieb handelte, war die Treuhand in Magdeburg zuständig. Also packten wir die Papiere zusammen und fuhren nach Magdeburg.

Quintessenz der Geschichte: Nach zähen Verhandlungen erhielt Tina den Familienbesitz mit einer Größe von 1100 qm in der Hauptgeschäftsstraße von Wernigerode zurück. Sie behielt und vermietete das Ladengeschäft für 5 Jahre, verkaufte für gutes Geld die Fertigungsräume der Bäckerei, besuchte in der Folgezeit Gründerseminare und machte sich 1997 in den ehemaligen Geschäftsräumen der Bäckerei ihres Großvater mit eine Geschenke-Boutique selbständig, die heute noch floriert. Damit ist Tina eine der wenigen Neugründerinnen in Wernigerode, die die Nachwendezeit geschäftlich überlebt haben.

Schluss

Im April 1990 wechselte ich als Vertreter des Leiters der Schutzpolizei nach Braunschweig. Somit konnte ich die „polizeiliche“ Wie­der­vereinigung nur noch mit einem gewissen Abstand begleiten. Auch kam in mir nie die Überlegung wie bei anderen auf, nach Sachsen-Anhalt zu wechseln. Dazu hatte ich in meiner Zeit in Goslar zu tiefe Einblicke in die verkorksten Strukturen der Volkspolizei der DDR gewonnen.

 

Zur Person:

Hans Reime, Jahrgang 1945, trat am 01.04.1964 in die Polizei des Landes Niedersachsen ein. Als Ausbilder in der Bereitschaftspolizei Hannover 1970 Aufstieg in den gehobenen Dienst. Danach Leiter Zentrale Sportausbildung und Sachbearbeiter Einsatz in der Direktion der Bereitschaftspolizei Hannover. 1980 Aufstieg in den Höheren Dienst und Verwendung in Braunschweig als Sachgebietsleiter Einsatz. 1982 Versetzung nach Goslar als Leiter der Schutzpolizei im Landkreis Goslar. Im April 1990 Rückkehr nach Braunschweig als Vertreter des Leiters der Schutzpolizei im Regierungsbezirk Braunschweig. Mitarbeit in und Leitung von Arbeitsgruppen zur Polizeireform Niedersachsen. Nach der Polizeireform 1994 wiederum Verwendung in Goslar als Leiter der integrierten Polizeiinspektion Goslar. 2000 Berufung in das Amt des Direktors der Polizei bei der Bezirksregierung Lüneburg mit dem Schwerpunkt „Castortransporte“. Seit 2003 im Ruhestand.

Bilder zum Text

Druckversion | Sitemap
Impressum: Angaben gemäß § 5 TMG und Verantwortlich für den Inhalt nach § 55 Abs. 2 RStV:
Hans Reime, 38640 Goslar. E-Mail über "Kontakte"
Diese Homepage wurde mit IONOS MyWebsite erstellt.